„Stell dir eine karierte Giraffe vor! Siehst du sie vor deinem inneren Auge? Es gibt Menschen, die das genau nicht können.“

So begann vor kurzem ein Instagram-Beitrag von #hirncomic. Das fand ich so interessant, dass ich ein wenig recherchierte.

Visualisieren zu können bzw. in Bildern zu denken, ist nämlich bedeutsam für Lernprozesse. Alle Gedächtnismeister merken sich die Unmengen an Informationen, in dem sie sich innerlich Bilder dazu machen. Rechtschreibung und flüssiges Lesen funktioniert nur, wenn wir die Wörter in ihrer korrekten Schreibweise als Wort-Bilder in unserem Wortspeicher abgelegt haben.

In meiner Lerncoach-Ausbildung werde ich beim Thema (visuelle) Lernstrategien regelmäßig gefragt, ob es Menschen gibt, die nicht visualisieren können. Tatsächlich habe ich bisher gedacht, dass einige Menschen ‚nur‘ denken, sie könnten mental keine Bilder sehen. Und vielleicht unsicher sind, ob sie es ‚richtig‘ machen würden. Stets sagte ich: „Eine vage Vorstellung von dem Gegenstand würde reichen, es muss niemals originalgetreu sein, was wir uns vor unserem inneren Auge vorstellen.“ Damit habe ich vermutlich nicht ganz Unrecht. Allerdings gibt es doch einige Menschen (2-4%), die ein seltenes Phänomen besitzen. Die Aphantasie.

Aphantasie ist die Bezeichnung für das Phänomen eines fehlenden willentlichen bildlichen Vorstellungsvermögens. Es wurde 1880 erstmalig beschrieben.

Menschen mit Aphantasie können mental keine visuellen Bilder in ihrer Vorstellungskraft erzeugen, selbst wenn sie sich bemühen, dies zu tun. Dies steht im Gegensatz zu Menschen, die ein lebhaftes „geistiges Auge“ haben und in der Lage sind, Bilder und Vorstellungen in ihrer Vorstellungskraft zu visualisieren.

Es ist wichtig zu betonen, dass Aphantasie von Person zu Person unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Einige Menschen mit Aphantasie haben möglicherweise nur geringe Schwierigkeiten bei der Vorstellung von Bildern, während andere überhaupt keine visuellen Vorstellungen haben. Diese Unterschiede können Auswirkungen auf verschiedene Aspekte des täglichen Lebens haben, von kreativem Denken bis zur Bewältigung von Traumerinnerungen und der Erinnerung an vergangene Erfahrungen.

Die genaue Ursache von Aphantasie ist noch nicht vollständig bekannt. Es gibt jedoch verschiedene Theorien und Hypothesen, die versuchen zu erklären, wie Aphantasie entstehen könnte. Hier sind einige dieser Erklärungsansätze:

Einige Forscher vermuten, dass Aphantasie mit Unterschieden in der Gehirnstruktur und -aktivität in Verbindung stehen könnte. Insbesondere wird das Fehlen oder die geringe Aktivität in Bereichen des Gehirns, die mit der visuellen Vorstellungskraft in Verbindung gebracht werden, in Betracht gezogen. Es ist jedoch noch keine spezifische Region des Gehirns als Ursache identifiziert worden.

Es wird u.a. angenommen, dass genetische Faktoren eine Rolle bei der Entstehung von Aphantasie spielen könnten. Es könnte eine genetische Veranlagung geben, die die Fähigkeit zur inneren Bildgebung beeinflusst.

Einige Untersuchungen haben darauf hingewiesen, dass Aphantasie in Verbindung mit anderen Erkrankungen oder Zuständen auftreten kann, wie zum Beispiel Autismus oder prosopagnosia (Gesichtsblindheit). Dies könnte darauf hinweisen, dass es eine Verbindung zwischen Aphantasie und anderen neurologischen Unterschieden gibt.

Psychologische Faktoren könnten ebenfalls eine Rolle spielen. Traumatische Erlebnisse oder frühe Lebenserfahrungen könnten die Entwicklung oder den Verlust der Fähigkeit zur inneren Bildgebung beeinflussen.

Aphantasie kann sehr unterschiedliche Facetten und Ausprägungen besitzen. Es bleibt ein faszinierendes und sich entwickelndes Gebiet der kognitiven Neurowissenschaften.

Folgend sechs Beispiele, wie sich Aphantasie zeigen kann, bzw. zu welchen Einschränkungen dieses Phänomen führen kann. Beim Lesen bitte ich dich an Schüler*innen und Studierende zu denken und welche Auswirkungen eine Aphantasie möglicherweise für auf deren Lernalltag mit sich bringt.

Traumerinnerungen: Einige Menschen mit Aphantasie haben oft das Gefühl, keine klaren Bilder in ihren Träumen gehabt zu haben, selbst wenn sie wissen, dass sie geträumt haben. Der Wissenschaftler Zeman fanden dagegen 2015 mit Kollegen heraus, dass Menschen mit Aphantasie durchaus in Bildern träumen können. Dies legt den Schluss nahe, dass nur das willentliche Vorstellungsvermögen betroffen ist.

Leseerlebnis: Beim Lesen eines Buches haben Menschen mit Aphantasie Schwierigkeiten, sich lebhafte Bilder von den beschriebenen Szenen oder Charakteren vorzustellen. Sie können die Handlung und den Text verstehen, aber ihnen fehlt die Fähigkeit, sich ein inneres mentales Bild dessen, was sie lesen, zu erschaffen.

Erinnerungen an vergangene Ereignisse: Wenn Menschen ohne Aphantasie sich an vergangene Ereignisse erinnern, können sie oft klare Bilder oder Szenen in ihrem Geist wiedererleben. Menschen mit Aphantasie hingegen erinnern sich an Ereignisse in Form von Fakten und abstrakten Konzepten, nicht jedoch in Form von bildlichen Erinnerungen.

Kreatives Schaffen: Menschen mit Aphantasie können Schwierigkeiten haben, sich kreative Ideen oder Konzepte vorzustellen und dann in die Praxis umzusetzen. Zum Beispiel könnten sie beim Versuch, ein Gemälde zu malen oder eine Geschichte zu schreiben, Schwierigkeiten haben, sich die gewünschten Bilder oder Handlungen in ihrem Kopf vorzustellen, was die kreative Prozessgestaltung erschwert.

Gedächtnis für Gesichter: Die Fähigkeit, sich Gesichter von Menschen zu merken und wiederzuerkennen, kann bei Menschen mit Aphantasie beeinträchtigt sein. Sie könnten Schwierigkeiten haben, sich die visuellen Details eines Gesichts zu merken, da sie nicht in der Lage sind, sich ein mentales Bild der Person vorzustellen. Dies kann soziale Interaktionen und zwischenmenschliche Beziehungen beeinflussen.

Räumliche Orientierung: In Situationen, die eine räumliche Vorstellung erfordern, wie das Navigieren in einer unbekannten Umgebung, das Lösen von Puzzles oder das Planen von räumlichen Bewegungen, könnten Menschen mit Aphantasie Schwierigkeiten haben. Sie könnten Schwierigkeiten haben, sich Karten oder Anweisungen visuell vorzustellen, was zu Orientierungsproblemen führen kann.

Diese Beispiele verdeutlichen, dass Aphantasie nicht nur das Vorstellen von Bildern betrifft, sondern auch andere Aspekte des Denkens, der Wahrnehmung und der kognitiven Fähigkeiten beeinflussen kann. Es ist wichtig zu beachten, dass Aphantasie eine Variation der menschlichen Wahrnehmung und Vorstellungskraft ist und nicht als eine Art von Störung oder Behinderung betrachtet werden sollte, sondern als eine interessante Facette der menschlichen kognitiven Vielfalt.

Aphantasie kann sich auf verschiedene Weisen auf das Lernen auswirken, da sie die Art und Weise beeinflusst, wie Menschen Informationen verarbeiten und sich Dinge vorstellen. Hier sind einige Auswirkungen auf das Lernen:

Schwierigkeiten beim Visualisieren von Konzepten: In schulischen oder beruflichen Kontexten kann Aphantasie das Verständnis von abstrakten Konzepten oder komplexen Informationen erschweren. Wenn jemand Schwierigkeiten hat, sich visuelle Vorstellungen von abstrakten Ideen oder mathematischen Konzepten zu machen, kann dies das Lernen in Fächern wie Mathematik oder Wissenschaft beeinträchtigen.

Eingeschränkte Erinnerungsfähigkeiten: Menschen mit Aphantasie könnten Schwierigkeiten haben, Informationen in Form von bildlichen Erinnerungen zu speichern und abzurufen. Das kann dazu führen, dass sie sich weniger gut an Details erinnern wie z.B. Schreibweisen von Wörtern oder sich schlechter an Dinge wie Daten, Diagramme oder Karten erinnern können, was das Lernen beeinflussen kann.

Kreative Herausforderungen: Kreative Aktivitäten, sei es das Schreiben, Malen, Musikmachen oder das Lösen von Designaufgaben, können für Menschen mit Aphantasie herausfordernder sein. Das Fehlen der Fähigkeit, lebhafte Bilder oder Vorstellungen zu erzeugen, kann die kreative Inspiration und Umsetzung beeinflussen.

Probleme beim Lösen von Problemen: Das Lösen komplexer Probleme erfordert oft die Fähigkeit, verschiedene Lösungsansätze in Gedanken zu visualisieren und zu vergleichen. Menschen mit Aphantasie könnten Schwierigkeiten haben, sich alternative Lösungswege vorzustellen und auszuprobieren.

Anpassungsfähigkeit beim Lernen: In einigen Lernsituationen kann die Anpassung an verschiedene Lehrmethoden und -stile schwieriger sein, da einige auf visuellen Vorstellungen basieren. Menschen mit Aphantasie müssen möglicherweise alternative Lernstrategien entwickeln, die besser zu ihrem persönlichen Lernstil passen.

Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass Menschen mit Aphantasie trotz dieser Herausforderungen in der Lage sind, erfolgreich zu lernen und in vielen Fällen hervorragende Leistungen zu erbringen. Sie entwickeln oft alternative Strategien, um Informationen zu verarbeiten und sich Dinge besser einzuprägen, die nicht auf visuellen Vorstellungen basieren.

Bildhafte Vorstellungen sind nur eine Form des Denkens und Lernens, und Aphantasie zeigt, dass es viele verschiedene Wege gibt, wie Menschen Informationen aufnehmen und verarbeiten können.

Menschen mit Aphantasie sind möglicherweise nicht in der Lage, die Fähigkeit zur inneren Bildgebung in dem Maße zu entwickeln, wie es bei Menschen ohne Aphantasie der Fall ist. Dennoch gibt es einige Ansätze und Techniken, die Menschen mit Aphantasie ausprobieren können, um ihre Fähigkeit zur inneren Bildgebung zu verbessern oder zu entwickeln:

Achtsamkeit und Entspannung: Entspannungs- und Achtsamkeitsübungen können helfen, den Geist zu beruhigen und die Konzentration zu verbessern. Dies könnte eine günstige Umgebung für das Training der inneren Bildgebung schaffen.

Beschreibende Sprache verwenden: Versuchen, Gegenstände und Ereignisse in detaillierter Sprache beschreiben. Selbst wenn keine klaren Bilder auftauchen, kann das Verwenden von bildhafter Sprache, um die Merkmale und Details von Objekten oder Szenen zu beschreiben, dazu beitragen, die Vorstellungskraft zu stimulieren.

Geschichten schreiben oder erzählen: Geschichten schreiben oder erzählen, mit lebhaften Beschreibungen von Charakteren, Orten und Ereignissen. Dies kann dazu beitragen, die Fähigkeit zur bildlichen Vorstellung zu entwickeln.

Visualisierungs-Übungen: Gegenstände oder (Wimmel-)Bilder eine Zeitlang anschauen, abdecken und aus der Erinnerung beschreiben, kann das genaue Schauen und damit den visuellen Lernkanal trainieren.

Multisensorische Ansätze: Statt sich ausschließlich auf visuelle Vorstellungen zu konzentrieren, auch die anderen Sinne mit einbeziehen. Überlegen, wie sich Dinge anfühlen, riechen, schmecken oder klingen könnten, und versuchen, diese Aspekte in der Vorstellung einzubeziehen.

Geduld und Ausdauer: Es ist wichtig zu verstehen, dass das Training der inneren Bildgebung Zeit und Geduld erfordert. Regelmäßiges Üben schafft Sicherheit im Umgang mit visuellen Repräsentationen.

Es ist jedoch entscheidend zu beachten, dass Menschen mit Aphantasie möglicherweise nie die gleiche Fähigkeit zur inneren Bildgebung entwickeln werden wie Menschen ohne Aphantasie. Jeder hat eine einzigartige kognitive Struktur, und das Fehlen der Fähigkeit zur inneren Bildgebung bedeutet nicht, dass man in anderen kreativen oder kognitiven Bereichen nicht erfolgreich sein kann. Akzeptanz ist vielleicht der Schlüssel, persönliche Stärken und Besonderheiten anzunehmen und auf individuelle Weisen zu nutzen.

Abschließend finde ich wichtig zu betonen, dass Aphantasie keine medizinische Störung oder Behinderung darstellt, sondern eine natürliche Variation in der Art und Weise, wie Menschen ihre Gedanken wahrnehmen und verarbeiten. Mich erinnert es daran, wie vielfältig wir Menschen ‚funktionieren‘. Es kommt stets darauf an, herauszufinden, wie man selbst ‚tickt‘, und wie man mit persönlichen Eigenarten am erfolgreichsten umgehen kann.

Diesen Blogartikel habe ich im November 2023 veröffentlicht, weil ich diese Informationen für alle Lernbegleiter*innen wichtig finde. Vor allem wenn wir visuelle Lernstrategien wie die Bildschirm-Technik (siehe unten) und Mnemotechniken vermitteln. Aphantasie als Phänomen zu kennen, ermöglicht uns verständnisvoller zu sein, besonders dann, wenn wir vielleicht selbst über ein ausgeprägtes ‚Kopfkino‘ verfügen und uns kaum vorstellen können, dass das bei anderen Menschen nicht (so gut) funktioniert.

Andersherum dürfen wir nicht zu voreilig darauf schließen, dass möglicherweise eine Aphantasie vorliegt und deshalb Imaginationen nicht produziert werden können. Mein Motto gilt stets: ‚Vieles ist möglich, wenn wir offen bleiben‘. Deshalb halte ich ein Visualisierungs-Training, angepasst an den jeweiligen Menschen, für den Weg, der Erfolge hervorbringen kann.

Unten in den Kommentaren findest du zwei Erfahrungsberichte…