Sarahs Mutter meldete sich bei mir, weil es zu Hause immer häufiger zu Konflikten kam. Immer wenn es zu Auseinandersetzungen kam, lief Sarah weg und tauchte erst Stunden später wieder auf. Die letzte Situation verlief anderes und eskalierte dermaßen, dass sie sich ernsthafte Sorgen um ihre Tochter machte. Als Mutter war sie von der Situation überfordert und ihr war klar, es ist gut sich Rat zu holen.
Ich begleite Sarah bereits einige Jahre, sie ist inzwischen 13 Jahre alt. Diesmal ging es um kein Lernthema, sondern um ihr Verhalten in Stresssituationen und um Selbstkontrolle. Die Mutter schilderte mir am Telefon, dass Sarah in einer recht banal erscheinenden Situation völlig ausrastete. Sie war nicht zu beruhigen, weinte, zitterte und schrie. Am Abend des nächsten Tages sprachen sie in Ruhe darüber. Sarah konnte nicht erklären was genau dazu führte und meinte nur, dass es eine Panikattacke war. Die Mutter schlug ein Termin mit mir vor.
Als wir uns dann zu dritt online trafen, sah ich recht schnell, dass Sarah wohl keine rechte Lust auf ein Coaching-Termin hatte. Sie wollte nicht mit ins Bild, war wortkarg und machte ein schmollendes Gesicht.
FEHLENDE COACHING-MOTIVATION
In den Lerncoach-Ausbildungen erwähne ich mehrmals, wie entscheidend die Coaching-Bereitschaft und Eigenmotivation der Schüler*innen ist. Der gesamte Prozessverlauf und vor allem das Ergebnis hängen davon ab. Wenn die jungen Coachees keine Lust auf eine externe Hilfe haben, z.B. weil sie von Eltern oder Lehrer*innen geschickt wurden, dann sind sie in den Terminen nicht präsent. Es fehlt ihnen an der notwendigen emotional-neuronalen Aktivierung, die es braucht, um nachhaltige Lernerfahrungen und Veränderungen zu erzielen.
KINDER UND JUGENDLICHE INS BOOT HOLEN
Wie immer können auch in diesem Fall viele Wege nach Rom führen. Ein paar Punkte finde ich jedoch besonders wichtig und hilfreich:
EMPATHIE
Kinder sind unglaublich feinsinnig. Sie haben ein extrem gutes Gespür dafür, wenn jemand (Erwachsene) sie irgendwo hinbekommen möchten. Oder etwas von ihnen erwarten, es jedoch als „etwas Tolles“ und Freiwilliges verkaufen und vielleicht gar noch mit einem Leckerli oder einer Belohnung locken. Da werden, wie in einem Verkaufsgespräch, attraktive Argumente vorgebracht, weshalb dies oder jenes doch gut für sie sei. In unserem Fall ein Coaching-Termin. Und auch wenn unser Ansinnen passend und gerechtfertigt ist, lassen wir Erwachsene dabei leider außeracht, dass sich Kinder dadurch nicht gesehen und ernstgenommen fühlen. Sie wollen nicht, dass man einfach über und für sie bestimmt. Sie wollen gefragt werden, wählen und zustimmen können. Und ab einem gewissen Alter, spätestens jedoch in der Pubertät, ist es wichtig sie dabei zu unterstützen eine gesunde Selbstwahrnehmung zu entwickeln, um für sich selbst gute Entscheidungen treffen zu können.
Deshalb brauchen sie zuerst einmal unsere uneingeschränkte Aufmerksamkeit und unser Einfühlungsvermögen. Wie wir alle, wünschen sie sich Verständnis für ihre Situation, für ihr Problem, auch wenn, bzw. gerade weil, sie „es“ nicht erklären können. Da können z.B. folgende Fragen vertrauensbildend und öffnend wirken:
KLARHEIT
Wenn es für die Kinder wirklich keine Wahl gibt, weil es ein „verordnetes“ Hilfsangebot ist, wie z.B. eine Lerntherapie oder wie bei Sarah ein Coaching-Termin, weil ihr Verhalten offensichtlich destruktiv ist und außerhalb ihrer Kontrolle liegt, dann ist wichtig, dass Eltern klar Stellung beziehen und die Führung übernehmen. Anstatt einen Coaching-Termin oder eine Therapie schmackhaft zu reden, lieber klar erklären:
WAHLFREIHEIT
Vor einem ersten Kennlerntermin bat ich die Eltern stets vorab mit ihren Kindern über die Idee, ein Coaching zu nutzen, zu sprechen. Am Ende des Erstgesprächs richtete ich immer eine deutliche Botschaft an das Kind:
Eltern und Kindern vermittle ich ganz klar, dass Erfolge von einer inneren Zustimmung und Motivation abhängen. Wenn diese Basis nicht gegeben ist, kann das von Eltern erwünschte Ergebnis ausbleiben. Und für Lerncoach und Coachee kann es zäh und mühselig werden.
INFORMIEREN
Nachdem ich sah, wie lustlos Sarah war, teilte ich ihr und ihrer Mutter als erstes mit, dass es ohne Zustimmung keinen Sinn hätte. Die Mutter versuchte sogleich ihre Tochter von dem Vorteil des Termins mit mir zu überzeugen. Ich dagegen offerierte beiden einen Vorschlag. Ich bot an, zuerst einmal zu erklären, wie bei uns Menschen so eine Panikattacke abläuft und was dazu führen kann. Im Anschluss sollte Sarah frei entscheiden, ob sie die restliche Zeit noch mit mir allein sprechen wollte. Mit einem Kopfnicken und einem kaum hörbaren „Ja“, stimmte sie zu.
Das war ein Angebot, bei dem es dem Mädchen leichter fiel zuzustimmen, da es nicht gleich um sie ging. Sie konnte sich innerlich zurücklehnen, entspannen und nur zuhören.
Darüber hinaus signalisierte ich ihr mit diesem Informationsangebot, dass ich sie ernst nehme. Bereits mit meiner Haltung vermittelte ich, dass ich ihr zutraue, aus diesen Informationen Rückschlüsse auf sich selbst zu ziehen und Erkenntnisse zu gewinnen, die sie für weitere Entscheidungen nutzen kann.
Ich halte eine Psychoedukation, also eine Aufklärung über psychische und zutiefst menschliche Vorgänge, für alle Klienten außerordentlich wichtig. Zu erfahren, wie menschlich eigenartig erscheinende Reaktionen sind, entspannt sofort. Licht ins Dunkle zu bringen, und verstehen zu können, was da innerlich abläuft, das vorher so diffus und unerklärlich war, stärkt das innere System.
Unter der Dokumentenkamera skizzierte ich Schritt für Schritt den „Teufelskreislauf“. Zu meinen Erläuterungen entstand eine Sketchnote, so dass das die Informationen mit einem zusätzlichen Sinn (visuell) aufgenommen werden konnten. Nach den einzelnen Schritten stellte ich Fragen, um darüber ins Gespräch zu gehen und um für noch mehr Verinnerlichung zu sorgen.
INNERE BETEILIGUNG
Bereits nach wenigen Erklärungen war Sarah mit an Board. Sie erkannte sich und Reaktionen von anderen Menschen wieder. Auch die Mutter berichtete, was sie von sich selber kennt. Sarah taute auf und antwortete auf Fragen. Plötzlich waren wir in einem Gespräch. Sie war beteiligt und öffnete sich. Eine Voraussetzung, die die Chance für ein anschließendes freiwilliges Coaching zu ihrem Thema erhöhte.
Sarah war anschließend bereit, mit mir nach einer Lösung zu schauen, wie sie zukünftig mit brenzligen Situationen umgehen kann. Den größten Ausschlag für die erweckte Coaching-Motivation erwuchs vermutlich durch die Hoffnung, zukünftig aus diesem Kreislauf mit eigener Kraft aussteigen zu können (Selbstwirksamkeit). Plötzlich tat sich die Chance auf Selbstkontrolle auf, ich erläuterte nämlich, dass es Ausgänge aus dem „Teufelskreis“ gäbe. Und dass es gut ist entsprechende Strategien zu kennen, um aussteigen zu können. Ich wollte wissen, welchen der drei genannten Ausgänge sie wählen würde. Damit bezog ich sie erneut in den Prozess mit ein, was wiederum die innere Beteiligung und Motivation erhöhte.
Bevor wir eine neue Verhaltensweise erarbeiteten und Sarah diese mental auf ihrem inneren Bildschirm als Film testete, half ich ihr mit Hilfe der Filmrollen-Methode (ein Format aus der Lerncoach-Ausbildung), alte unangenehme Erlebnisse in ihre Vergangenheit zu bringen und zusätzlich mental einen Schutz aufzubauen.
WIE GEHT’S WEITER?
In so einem Fall, wenn es um das Lösen einer Blockade und das Generieren eines neuen Verhaltens geht, empfehle ich stets nach 2-4 Wochen einen Folgetermin zu vereinbaren. Zum einen um gemeinsam zu schauen, wie wirksam die Veränderungsarbeit war. Zum anderen, um eventuell nachzujustieren. So oder so können immer zusätzliche Ressourcen aktiviert werden.
Ich schickte Sarah meine Teufelskreis-Kritzeleien und die Eckdaten ihrer neuen Strategie via WhatsApp als Fotos. Da ich sie schon länger kenne, versicherte ich ihr zusätzlich, dass sie sich jeder Zeit bei mir melden kann, wenn sie mal nicht weiter weiß oder einen Rat benötigt. Das ermöglicht ihr selbstbestimmt um Unterstützung bitten zu können. In einer Antwort bedankte sie sich für dieses Angebot.
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